Man könnte sich fragen, wozu wir den Begriff der Inklusion überhaupt benötigen? Mittlerweile wurde dieser schon eher zu häufig (und auch in falscher Weise) verwendet. Zumindest im Schulsystem hat Inklusion mittlerweile aufgrund der mangelnden Implementierung einen negativen Beigeschmack bekommen und wird sowohl an Regel- wie auch Förderschulen nur mehr mit Vorsicht verwendet.
Lange Zeit wurden Menschen mit einer Art Behinderung von der Schule und auch allgemein aus der Gesellschaft exkludiert. Es bestand also eine Norm, die bestimmte Merkmale von Menschen akzeptierte, sozusagen als gut hieß oder auch nicht. Im Laufe der Zeit kam es zur Integration jener Personen, die abnorme Eigenschaften besaßen. Diese einst separierte Gruppe wurde damit in eine bestehende Gruppe wiedereingegliedert. Inklusion kann als Weiterentwicklung der Integration definiert werden, indem Menschen mit und ohne Behinderung von Anfang an innerhalb eines(!) Systems zusammenleben, beispielsweise in einer Schule gemeinsam unterrichtet werden. Im Zuge dessen wird die Differenzierung bzw. Kategorisierung von Menschen mit unterschiedlichen Merkmalen hinfällig. Die Vielfalt an persönlichen Merkmalen wird als (neue) Norm angesehen.
Was unterscheidet nun eigentlich gewisse Menschen von anderen? Besser gefragt: Was ist das entscheidende Merkmal, das Menschen gegenüber anderen als andersartig oder fremd erscheinen lässt? Sind es primär die äußeren Eigenschaften oder Verhaltensweisen? Damit würde sich die oberflächliche Wahrnehmung des Menschen bestätigen, der andere anhand ihrer äußeren Erscheinung bewertet anstatt ihres Charakters, ihrer inneren Werte.
Egal ob unsere Bewertung der Norm entspricht oder nicht, denke ich, dass wir Menschen durchaus Wert auf die Persönlichkeit eines Menschen legen; dass diese letztendlich ausschlaggebend ist, ob wir die Person annehmen, zumindest für uns als normal ansehen oder nicht. Um die persönlichen Einstellungen, Denkweisen einer Person zu erfahren, müssen wir diesen begegnen, in Kommunikation mit ihr treten. Nur durch das persönliche Gespräch kann ich einen Menschen wirklich kennenlernen.
Ich denke, dass viele Menschen eine ganz andere Einstellung zu Menschen mit einer Behinderung hätten, wenn sie einen persönlichen Austausch mit ihnen erlebten. Zumindest zeigt dies meine Erfahrung. An der bereits erwähnten Schule in Niederaudorf und später auch an anderen Schulen erlebte ich, wie letztendlich eine ganze Gemeinde ihre Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung änderte. Mit jedem weiteren Projekt, das stets auf die inklusive Begegnung abzielte, nahmen die Vorurteile und Barrieren seitens der Teilnehmer*innen sichtlich ab. Menschen mit Behinderung wurden zunehmend als Teil der Gemeinschaft, ja – als normal angesehen, sie wurden sogar als Bereicherung angesehen. Personen, die sich anfangs noch skeptisch oder einfach nur unbeholfen zeigten, hatten schließlich ihre Hemmungen im Umgang mit behinderten Menschen abgelegt. Der alltägliche Kontakt mit ihnen führte zu einer Selbstverständlichkeit.
Diesen Entwicklungen zufolge könnte man schlussfolgern, dass Inklusion erst durch die Existenz einer Norm entstanden ist; womit Menschen mit bestimmten Merkmalen aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Ansonsten wären all die Begriffe – Exklusion, Separation, Integration, Inklusion gar nicht notwendig. An jener privaten Schule in Niederaudorf wird beispielsweise das Wort Behinderung gar nicht mehr gebraucht; denn jede Person wird als besonders angesehen. Vielfalt ist sozusagen die neue Norm.
Für mich persönlich birgt diese Ansicht viel mehr Wertschätzung für alle Menschen – jede/r einzelne und damit nicht bloß ein Mitglied einer normierten Gruppe wird mit seinen/ihren individuellen Voraussetzungen als wertvoller Teil der Gemeinschaft angesehen. Die Person wird als Individuum anerkannt und ist der Ausgangspunkt jeglichen Handelns und Denkens. Demzufolge entfällt jegliche Kategorisierung im Sinne einer möglichen Bewertung der Persönlichkeit; jeder Mensch an sich hat (unabhängig von seinen Voraussetzungen) seinen/ihren persönlichen, individuellen Wert und ist damit gleichberechtigt – hat also den Anspruch auf die gleichen Rechte.
Braucht eine Gesellschaft also eine Norm oder hemmt diese eher eine Entwicklung hin zur Inklusion? Woher kommt denn das Bedürfnis, dass wir Menschen in Kategorien sehen? Ich denke, es hat viel mit der eigenen Angst vor dem Fremden zu tun. Was wir nicht kennen, schieben wir lieber vor uns weg; damit müssen wir uns nicht damit auseinandersetzen oder das Risiko eingehen, womöglich Fehler (im Umgang mit jenen Menschen) zu begehen. Durch die mangelnde Begegnung fehlt uns eine gewisse Normalität im Umgang mit Menschen, die eine Behinderung haben. Damit bestehen bestücken wir uns weiterhin mit den Etiketten "normal" und "behindert" und sperren vor allem Personen mit einer Behinderung in eine Schublade. Nachdem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn!
Wenn wir diese Fragen in Bezug auf unsere eigene Person stellen - Wollen wir persönlich denn als normal gelten? Dies bedeutet, dass wir den meisten unserer Mitmenschen gleichen oder zumindest als ähnlich angesehen werden. Demnach werden unter Umständen besondere Eigenschaften, Fähigkeiten von uns nur mäßig gewürdigt, möglicherweise gar nicht wahrgenommen oder gewünscht. Gerade in den letzten Jahren streben Menschen, Mitglieder verschiedener Interessensgruppen danach, NICHT normal zu sein. Sie gehen auf die Straße, um bewusst aufzufallen, teilweise auch unser System zu provozieren.
Kommen wir nochmal zurück auf die nach wie vor bestehende Norm, die eine gewisse Andersartigkeit ausgrenzt (da diese meist negativ behaftet ist) – spielt diese im Umgang mit unseren Mitmenschen wirklich eine Rolle oder anders gefragt: ist sie tatsächlich der Grund für unsere Abneigung gegenüber bestimmten Menschen?
Ich denke, dass unsere Wahrnehmung, wie wir andere Personen sehen, einerseits von unserem eigenen Selbstbild, andererseits auch von dem allgemeinen Menschenbild unserer Gesellschaft geprägt ist (wobei diese einander bedingen, wie ihr im nächsten Blogbeitrag lesen könnt). Welche Vorstellungen wir von unseren Mitmenschen haben, hat (meiner Ansicht nach) mit den Erwartungen an uns selbst zu tun. Zusätzlich haben sicherlich auch gesellschaftliche Normen und Erwartungshaltungen einen starken Einfluss darauf, wie wir unser Umfeld wahrnehmen und möglicherweise einordnen.
Kommentar hinzufügen
Kommentare