Ich wage zu behaupten, dass unsere Leistungsgesellschaft, wie sie in Deutschland der Fall ist, sicherlich nicht zu einer positiven, vielmehr defizitorientierten Betrachtung von Menschen mit Behinderung beiträgt. Wer keine entsprechende Leistung erbringen kann, gilt als schwaches Glied und wird beispielsweise vom ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Dabei braucht man nicht mal eine diagnostizierte Behinderung haben; wer in irgendeiner Weise als nicht zu hundert Prozent „arbeitstüchtig“ gilt oder in Zukunft womöglich nicht mehr dieselbe Leistung aufbringen kann, wird häufig schon präventiv aussortiert; sei es im Beruf oder in der Schule, wenn Kinder bzw. deren Eltern mit einer manchmal nur marginalen Problematik gleich die Empfehlung für die Förderschule bekommen. Beginnt hier nicht schon die Diskriminierung?
Mittlerweile sogar früher... denn bereits im Kindergarten werden zum Einen Kinder mit einer Behinderung häufig nicht aufgenommen. Ein Integrationsplatz entspricht aktuell in Bayern drei regulären Kindergartenplätzen. Denn Kinder mit Behinderung benötigen mehr Betreuung. Ist dies denn bei allen so? Und könnte man die Rechnung dann nicht anders deuten, indem man sagt - der Mehrwert, den ein Kind mit Behinderung einer Institution bringt, ist die drei "verschenkten" Plätze im wahrsten Sinne wert.
Zum Anderen werden in den regulären Einrichtungen immer früher Testungen im Hinblick auf die Einschulung durchgeführt. Auf das Thema Arbeit Arbeit und Schule gehe ich in späteren Blogbeiträgen ein.
Ein Mensch hat wohl in jeder Gesellschaft (vor)definierten Anforderungen zu entsprechen und damit meist eine gewisse Funktion zu erfüllen, nicht nur im beruflichen oder schulischen Lebensbereich. Auch im privaten Bereich hat der, ja nahezu allgegenwärtige Leistungsgedanke in unserer Gesellschaft Auswirkung auf unsere persönliche Entwicklung. So wie wir als Schüler*in oder Arbeitskraft zu sein haben, sollten wir auch als Person an sich sein - makellos, im Grunde perfekt. Bereits in den frühen Kindheitsjahren werden wir Menschen schon - der eine mehr, der andere weniger stark von den Erwartungshaltungen unseres Umfeldes geprägt. Unsere Gesellschaft gibt uns eine gewisse Norm vor. Die dadurch festgelegte Latte ist aus meiner Sicht ziemlich hoch; denn sowohl was die äußeren als auch inneren Merkmale anbelangt, sollten wir Menschen die perfekte Person darstellen. Normal zu sein ist unter Umständen nicht genug. (Darauf werde ich in einem späteren Blogbeitrag eingehen.) Doch was bedeutet es, perfekt zu sein? Wann bekommt jemand dieses Prädikat? Wir alle wissen, dass dieses Merkmal für keine/n von uns erreichbar ist, trotzdem versuchen wir (meine Person eingeschlossen) nicht selten, einen solchen anzustreben.
Das Fremdbild unserer Mitmenschen kann einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf unser (eigenes) Bild von uns selbst haben. Die Entwicklung und tatsächliche Ausprägung unseres Selbstbildes ist jedoch sehr individuell. Ich kann von mir selbst behaupten, dass ich mich selbst immer mit einem sehr strengen, kritischen Auge betrachte und, wenn auch meist unbewusst, nach Perfektionismus strebe. Abgesehen davon, dass ich für die Aufrechterhaltung oder Verbesserung meiner Gesundheit recht viel Disziplin an den Tag legen muss - nach dem Motto „Von nichts, kommt nichts“, habe ich besonders in der Kindheit und Jugend stets das Gefühl gehabt, etwas an mir korrigieren zu müssen.
Nach vielen Jahren der Selbstreflexion bin ich mir sicher, dass meine Behinderung einen großen Teil für dieses ja fast zwanghaft perfektionistische Verhalten beigetragen hat; damit meine ich vor allem die Sichtweise seitens der Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin. Als Mensch mit einer Behinderung oder anderen abnormen Erscheinungsform hat man stets das Gefühl, anders (im schlimmsten Fall minderwertig) zu sein. Das ist kein schönes Gefühl, denn man sieht sich dadurch nicht einer Gruppe zugehörig, jedenfalls nicht der größeren Gruppe der „Normalen“. Die logische Folge ist - man versucht sich jener Masse anzupassen.
Meistens war mir dieser innere Mechanismus gar nicht bewusst, doch eigentlich begleitet oder treibt er mich mein Leben lang. Ich denke, dass persönliche Charaktereigenschaften eine solch strebsame, perfektionistische Einstellung „begünstigen“ können, trotzdem sind es aus meiner Sicht die Ansprüche der Gesellschaft, die maßgeblich für jene verantwortlich sind.
Dazu möchte ich noch ein Beispiel aus meinem Leben geben: Ich bin sehr oft von Menschen wegen meiner Gehbehinderung angeschaut, teilweise richtig angestarrt worden. Nicht nur das, ich bin von manchen Personen auf sehr unpassende, teils demütigende Weise angesprochen worden. Durch den persönlichen Austausch weiß ich, dass es auch anderen Personen mit ähnlichen Voraussetzungen ergeht wie mir. Was macht dies mit einem Menschen?
Man entwickelt und internalisiert ein Selbstbild, das einen selbst als unzureichend oder „mangelhaft“ wahrnehmen lässt (da wären wir wieder beim Prädikat). Infolge projiziert man dieses Bild quasi auf das Umfeld, wodurch die Annahme entsteht, dass die Mitmenschen dieselbe Wahrnehmung von einem selbst besitzen.
Auch dieser Entwicklungsprozess verläuft meist unbewusst und schleichend; bis sich die betroffenen Personen - manche, nicht alle - schließlich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen oder zunehmend damit beschäftigt sind, jene auffälligen Merkmale möglichst zu verdecken. Menschen mit beispielsweise einer Behinderung oder anderen Hautfarbe betrachten ihre Eigenschaften im Laufe der Zeit als Mängel, was zu einem erniedrigten Selbstwertgefühl, auch zu Scham führen kann.
Damit einhergehend ist der ständige Drang (oder Druck), die eigenen Schwächen aufwerten und kompensieren zu müssen, sich in irgendeiner Form der Masse anzugleichen. Die Hauptsache ist, man fällt nicht auf. Aus eigener Erfahrung verlangt dies viel Energie von der Person ab und kann sich zu einer gewissen Art von Dauerstress entwickeln. Verständlicherweise ziehen sich deshalb Menschen lieber zurück, als sich ständig dem Prozess des sich Verbesserns hinzugeben.
Ob oder wie diese Entwicklung verläuft, hängt stark vom persönlichen Charakter und den bisherigen Lebenserfahrungen ab. Nicht jeder Mensch mit einer Behinderung mag unangenehme Reaktionen der Außenwelt auf die eigene Person beziehen oder überhaupt diese entsprechend (negativ) wahrnehmen; dies hängt sicherlich stark vom eigenen Selbstbewusstsein und einer gewissen Ich-Stärke ab. Unser Umgang mit äußeren Einflüssen ist so unterschiedlich wie wir selbst.
Menschen mit einer sensiblen Wahrnehmung (die vielleicht schon durch die Erfahrungen mit anderen Menschen begründet ist) mögen negative Reaktionen aus ihrem Umfeld schnell persönlich nehmen. So war es in meinem Fall. Manch unfreundliche Begegnungen, Kommentare oder auch nur Blicke, ließen einen persönlichen Mangel in mir verspüren, den ich folglich durch das Streben nach Perfektion kompensieren versuch(t)e. Um aus diesem recht anstrengenden Verhaltensmuster rauszukommen, wähle ich manchmal gerne den Rückzug. Zuhause muss ich mich keiner Person beweisen und kann einfach ich selbst sein, aufatmen.
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