4 Von Grund auf gut

„Du bist ja behindert..!“

Zu meiner Schulzeit, aber auch heute noch wird in manchen Milieus der Behinderungsbegriff verwendet, um eine Person zu erniedrigen. Behindert als negatives Attribut und Schimpfwort war lange Zeit nicht unbedingt verwerflich. Mittlerweile hat ein gewisser Sensibilisierungsprozess in der Gesellschaft stattgefunden, was den Sprachgebrauch jeglicher Art von Diskriminierung (Rassismus, LGBTQIA+) anbelangt.

In der Grundschule beschimpfte mich mal ein Mitschüler, wenn auch spaßhalber, indem er mich (wie oben zitiert) als behindert bezeichnete. Dabei ging es ihm  bloß um eine "coole" Selbstdarstellung – was in meinem Fall allerdings ziemlich unpassend war. Denn ich wies ihn, damals als kleines Mädchen, daraufhin, dass ich tatsächlich behindert bin, also eine Behinderung hatte. Nach meiner Äußerung fielen ihm vorerst die Worte, zumal er mit einer solchen Aussage nicht gerechnet hatte. Auch ich war dennoch etwas beschämt und lächelte verlegen. Schließlich wollte ich ihn nur auf seine (im Grunde diskriminierende) Äußerung aufmerksam machen.

Wie vermutlich auch einige andere, die Behinderung als Schimpfwort missbrauchen, hatte er sich noch nie darüber Gedanken gemacht - was man von einem 8-jährigen frechen Jungen auch nicht bedingt erwarten kann, dass man damit eine Personengruppe negativ attribuiert.

So schlagfertig wie in jener Situation war ich in meiner Kindheit meist nicht; schließlich kamen weitere unangemessene Kommentare hauptsächlich von Erwachsenen. Erst in den letzten Jahren habe ich es öfter geschafft, gelassen auf solche Sprüche zu reagieren (ja - auch als erwachsene Frau scheuen sich fremde Menschen nicht, mich grundlos auf meine Behinderung anzusprechen). Im besten Fall habe ich sogar einen „schlagkräftigen“ Gegenspruch parat. Wie damals am Pausenhof ist es nicht meine Absicht, mein Gegenüber gleichermaßen zu beleidigen; auch wenn ich einen guten Grund hätte, mit ähnlichen Worten „zurückzuschießen“. Es scheint mir nämlich nicht deren Absicht zu sein, eine Person wie mich vorsätzlich zu beleidigen, manchmal auch nachhaltig zu kränken.

Spätestens nach meiner Reaktion, sei es ein gleichgültiges Lächeln oder doch eine ehrliche Antwort, sieht man den Leuten an, dass es ihnen unangenehm ist. Viele wissen es einfach nicht besser, wie sie adäquat mit einer Person, die eine gewisse Andersartigkeit aufweist, umgehen. Natürlich ist dies keine Entschuldigung für ihr Fehlverhalten, allerdings fehlt ihnen das Bewusstsein für ihre mangelnde Sensibilität. Daher sehe ich es als meine Aufgabe, sie auf ihr möglicherweise verletzendes Verhalten gegenüber anderen wohl genauso hilflosen Menschen hinzuweisen.

Mittlerweile lasse ich jegliche Kommentare nicht mehr so sehr an mich heran, andere Personen sind vielleicht noch nicht so weit; auch wenn es nur unbedachte Floskeln sind, können sie Menschen persönlich treffen, und unter Umständen zu langanhaltenden Kränkungen, sogenannten (emotionalen) Wunden führen. Meistens sieht man diese den Personen nicht an. 

Wenn Freund*innen eine solche Situation miterleben, sind sie häufig geschockt über die Verhaltensweisen anderer - meistens mehr als ich; sie fordern mich häufig dazu auf, mit bösartigen Worten zu kontern; ab und an tun sie es dann selbst. Ich hingegen möchte mich nicht auf die gleiche sprachliche Ebene begeben und mein Gegenüber herabwürdigen. Beides bringt keine positive oder nachhaltige Veränderung. Vielmehr geht es mir darum, jene Menschen durch meine sachliche (manchmal etwas ironische) Reaktion zu einer gewissen Selbstreflexion zu verhelfen, sodass ihnen dieser Fehler das nächste Mal in Kontakt mit einer behinderten, aber auch jeder anderen "andersartigen" Person nicht mehr passiert.

Diese Art Unbeholfenheit der Menschen ist meiner Meinung nach eine Folge mangelnder Erfahrung – es fehlt ihnen an Begegnungen mit Personen, die anders sind als sie oder die meisten in unserer Gesellschaft. Inklusion ist das Stichwort.

Im Laufe meines Lebens habe ich mir viele Kommentare fremder Menschen, sei es auf der Straße, beim Arzt (sogar von diesen selbst!) oder im Cafè anhören müssen. Es braucht manchmal eine „dicke Haut“, damit man sich nicht von diesen persönlich angreifen lässt.  Für Menschen wie mich, die nicht von Anfang an ein starkes Selbstbewusstsein haben, kann es ein langer Weg oder Lernprozess in der Auseinandersetzung mit sich selbst sein.

Mittlerweile wäre es mir oft lieber, die Leute würden schweigen, ihre „dummen“ Sprüche für sich behalten und mich damit in Ruhe lassen. Nichts desto trotz muss ich immer wieder mit der ein oder anderen „unwissenden“ Personen umgehen (wobei dann eher sie mit mir). Ich sehe diese Gespräche als wichtige Erfahrung; nicht mehr für mich, sondern für mein Gegenüber. Indem ich ihnen spiegle, wie ich mich durch ihre „Anmache“ fühle, lernen sie Menschen zum Beispiel mit einer Behinderung anders, würdevoller zu begegnen. Das ist zumindest meine Hoffnung.

Letztendlich habe ich jedes Mal Verständnis für jene Mitmenschen, denn es mangelt ihnen an Erfahrungen – Begegnungen mit Menschen, die eine abnorme Eigenschaft aufweisen. Was wir nicht kennen oder als normal empfinden, ist für uns befremdlich, ja - macht uns vielleicht sogar Angst. Daher ist es nur menschlich, wenn wir in dem Fall keine passende Umgangsform finden. Eine solche müssen wir erst lernen. Aus diesem Grund finde ich es so wichtig, dass wir Begegnungen schaffen, bei denen sich Menschen mit und ohne Behinderung annähern und die Möglichkeit haben, auf das Fremde zugehen zu können. Vielleicht braucht es dafür zuerst einen geschützten Rahmen.

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